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Titel
Hochschulumbau Ost. Die Transformation des DDR-Hochschulwesens nach 1989/90 in typologisch-vergleichender Perspektive


Herausgeber
Blecher, Jens; John, Jürgen
Reihe
Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena (16)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marie Schönstädt, FOM Hochschule für Ökonomie & Management Essen

In den Jahren 2019/2020 jährten sich Friedliche Revolution und deutsch-deutsche Einigung zum 30. Mal. Nicht nur gesellschaftspolitisch wurde mit Blick auf das Vereinigungsjubiläum ein kritisches Resümee der Vereinigungspolitik gezogen, auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung um einzelne Aspekte wie den Hochschulumbau wurde abermals befeuert.1 Vor diesem Hintergrund ist auch der von Jens Blecher und Jürgen John herausgegebene Tagungsband "Hochschulumbau Ost. Die Transformation des DDR-Hochschulwesens nach 1989/90 in typologisch-vergleichender Perspektive" zu sehen, der einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte leistet. Der Band geht auf die im September 2018 veranstaltete Leipziger Tagung zur Transformation des DDR-Hochschulwesens in das bundesrepublikanische Wissenschaftssystem zurück, deren Ziel es war, eine "kritische Neubefragung der Vorgänge mit nun schon 30jährigem (sic!) zeitlichem Abstand" (S. 9) vorzunehmen. Dabei sollte die typologisch-vergleichende Perspektive in den Vordergrund rücken, dominierten bislang vor allem lokale Einzelstudien. Der Tagungsband möchte in diesem Sinne die vergleichende Langzeitperspektive auf den ostdeutschen Hochschulumbau infolge der Jahreswende von 1989/90 eröffnen, vertritt aber zugleich eine für die Zeitgeschichte relevante forschungspragmatische Absicht: Die zur Hochschultransformation vorhandenen Quellen- und Archivbestände in den Universitätsarchiven werden auf ihre Zugänglichkeit und ihre Nutzungsbedingungen beleuchtet, womit auch neue Forschungsperspektiven betrachtet werden sollen. Insgesamt versteht sich der Tagungsband "als Beitrag zur weiteren Erforschung der ostdeutschen Hochschultransformation nach 1989/90, damit verbundener Transformationsprobleme und der Transformationsfolgen" (S. 15).

Der Einleitung folgen drei Teile mit insgesamt 16 Beiträgen: erstens Grundfragen und vergleichende Perspektiven; zweitens Aspekte des ‚Hochschulumbau Ost‘ und drittens Quellen der Transformationsforschung in Universitätsarchiven. Mit diesem Zuschnitt wird eine neue Perspektive eröffnet, die sich von bisherigen – zeitgenössischen, zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen – Arbeiten unterscheidet. Denn das Thema Wissenschaft und Wiedervereinigung wurde schon unmittelbar nach der vollzogenen Einheit beforscht und von den beteiligten, zumeist westdeutschen Akteur/innen intensiv bewertet und gedeutet.2

Im ersten Teil werden übergreifende Grundfragen diskutiert. Den Anfang macht Jürgen John, der eine kritische Einordnung des Transformationsbegriffs und einen umfassenden Überblick über den Forschungsstand gibt. Sein Beitrag schließt mit einem Vorschlag zu einer Typologie des Hochschulumbaus Ost, wonach vier "Grundtypen" der heute 16 Universitäten auf ostdeutschem Gebiet identifiziert werden: Darunter seien zunächst die älteren, traditionsreichen Volluniversitäten wie die Humboldt-Universität oder die Universität Leipzig. Weiterhin können davon die durch Strukturintegration ausgebauten und schon in der DDR gegründeten Technischen Universitäten unterschieden werden, während der dritte Typ in den neugegründeten Technischen Universitäten liegt. Typ vier umfasse schließlich die neugebildeten Volluniversitäten wie Potsdam oder Frankfurt (Oder) (S. 39f.).

Die folgenden Beiträge des ersten Teils bilden jeweils eigene Zugänge zum Thema. Peer Pasternack benennt vier Dimensionen des Hochschulumbaus Ost, wonach strukturelle, personelle, inhaltliche und kulturelle Aspekte zu unterscheiden seien. Mitchell Ash stellt in seinem Artikel verschiedene universitätsgeschichtliche Zugänge vor und betrachtet den Elitenwechsel an deutschen Hochschulen über die vier Systemumbrüche im 20. Jahrhundert in vergleichender Perspektive. Die Frage, ob es sich 1989/90 um einen Elitenwechsel gehandelt habe, hängt demnach von der Definition der Elitenkategorie ab (S. 87). Insgesamt kann für den letzten Systemumbruch aber ein "radikale[r] Einschnitt" (S. 87) festgestellt werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im Jahr 1997 nur 16,4 Prozent der im Jahr 1989 an der Humboldt-Universität zu Berlin Beschäftigten weiterhin dort tätig waren. Auch Stefan Gerber argumentiert aus universitätsgeschichtlicher Perspektive, geht aber stärker auf die Langzeitfolgen des Hochschulumbaus ein. Demnach fand in den 1990er-Jahren eine westdeutsche Reproduktion des dortigen Wissenschaftssystems statt, in der bestehende Netzwerke sowie soziostrukturelle und kulturelle Faktoren über Berufungen entschieden (S. 103). Eine planungsgeschichtliche Perspektive auf den ostdeutschen Hochschulumbau eröffnet Dirk van Laak, der feststellt, dass es keinen westdeutschen Plan, sondern vielmehr geübte Routinen waren, nach denen die Hochschultransformation erfolgte (S. 118f.). Mit einem Blick in die langfristige Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Hochschulen reicht der Beitrag von Matthias Middell bis in die jüngste Gegenwart. Ostdeutsche Hochschulen hätten gegenüber westdeutschen bei der jüngsten Exzellenzstrategie vergleichsweise schlecht abgeschnitten. Als Erklärung dafür werde aber nie das Wissenschaftssystem der DDR beziehungsweise die Transformationsfolgen angeführt, obwohl nach Middell durchaus nach falschen Personalentscheidungen gefragt werden könne (S. 127). Die unterschiedlichen Ansätze und Zugänge des ersten Teils verdeutlichen abermals, aus welch unterschiedlichen Perspektiven das Thema der ostdeutschen Hochschultransformation historisch betrachtet werden kann.

Der zweite Teil des Sammelbands beleuchtet verschiedene Aspekte der Hochschultransformation. Klaus Dicke fokussiert die Rolle der Hochschulgesetze, während Robert Gramsch-Stehfest auf die Studierenden als Akteur/innen eingeht, die ansonsten oftmals zugunsten institutioneller Fragestellungen zurückgestellt werden. Krijn Thijs thematisiert die westdeutschen Evaluierer des Kölner Wissenschaftsrats; er schildert eindrücklich und quellennah die Begutachtung der historischen Akademieinstitute in Ost-Berlin als "erfahrungsgeschichtliche Analyse" (S. 170). Zwei weitere Beiträge von Klaus Fitschen und Barbara Marshall widmen sich den kirchlichen Fakultäten während des ostdeutschen Hochschulumbaus und den Hochschulneugründungen Potsdam und Erfurt im Vergleich. Damit werden sowohl rechtliche Rahmenbedingungen als auch beteiligte Akteur/innen und institutionelle Neugründungen in den Blick genommen.

Im dritten Teil sprechen Universitätsarchivar/innen über die Quellenlage in den Universitätsarchiven Leipzig, Prag, Dresden, Chemnitz und Jena. Die 30-jährige Sperrfrist für Sachakten zur DDR lief im Jahr 2020 zwar aus, doch für die Zeit ab 1990 gilt die Sperrfrist weiterhin, was eine Erforschung der Hochschulgeschichte in längerer Perspektive erheblich erschwert. Allerdings gab es zumindest am Universitätsarchiv Leipzig bislang auch nur wenige Anfragen zur jüngsten Hochschulgeschichte, wie Jens Blecher schildert (S. 247). Er stellt die unterschiedlichen Rechtslagen und Entstehungen der Archivordnungen von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen vor und gibt einen Überblick über geltende Schutzfristen für Sach- und Personalakten in den ostdeutschen Bundesländern. Anders als Barbara Marshall im selben Band, bezeichnet Blecher lediglich die Universität Frankfurt (Oder) als Neugründung, da diese ohne Vorgängereinrichtung erst 1990 die Promotionsberechtigung verliehen bekam (S. 231). Die Frage nach Vorgängerinstitutionen und hochschulrechtlichen Aspekten wie Promotionsordnungen wirft noch einmal ein anderes Licht auf den Status der Hochschulneugründungen. An dieser Stelle wäre eine Auseinandersetzung zwischen den Autor/innen wünschenswert gewesen. Einen knappen Exkurs in die Bestände des Archivs der Karls-Universität Prag gibt Marek Ďurčanský, der neben offiziellen Dokumenten wie Protokollen den Stellenwert von Quellen mit privatem Charakter wie Nachlässen oder Memoiren betont (S. 253). Den Hochschulumbau an der TU Dresden behandelt Matthias Lienert und ordnet diesen vor dem Stellenwert der Technischen Universität ein. Besonders interessant ist die Auswertung der Lehrstuhlbesetzungen in den 1990er-Jahren, die zwischen ost- und westdeutschen Professor/innen zu Berufungen alten und neuen Rechts und damit zu unterschiedlichen Status führten (S. 289ff.). Einen lohnenden, wenn auch überschaubaren Quellenbestand stellt Stephan Luther mit der Schiedsstelle für Arbeitsrecht an der TU Chemnitz vor. Der Bestand umfasst Verfahrensakten zu arbeitsrechtlichen Klagen gegen Kündigungen, die infolge des Einigungsvertrags ausgesprochen wurden und zeugt von der rechtlichen Problematik der Transformation. Hieraus und in Ergänzung mit Personalakten leiten sich neue rechtshistorische Fragestellungen ab, die bislang – vor allem aufgrund von (Personen-)Schutzfristen – noch nicht erforscht werden konnten. Den Abschluss des Tagungsbands bildet der Beitrag von Rita Seifert zur DDR-Geschichte im Universitätsarchiv Jena. In Jena fanden schon in den 1990er-Jahren Forschungen zur modernen Hochschulgeschichte statt3, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch Schutzfristen galten und noch nicht alle Akten erschlossen waren. Das Universitätsarchiv entschied sich hierbei zu einem forschungsunterstützenden Weg und wählte die zu erschließenden Akten nach der Durchführung von Forschungsprojekten aus.

Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass der Tagungsband neue und weiterführende Ansätze zur Erforschung des ostdeutschen Hochschulumbaus bietet und zwar mit Blick auf Akteur/innen, Institutionen und Forschungszugänge. Gelungen sind dabei die verschiedenen Perspektiven auf den Forschungsgegenstand sowie die Etablierung einer einheitlichen und durchgängigen Terminologie in der Beschreibung als "Hochschulumbau Ost". Eine besondere Leistung ist, dabei die Debatte um geeignete Begrifflichkeiten des Prozesses nicht auszublenden, sondern in der Terminologiefindung produktiv zu berücksichtigen. Wenngleich es gelungen ist, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen ost-, west- und internationalen Perspektiven einzubringen, ist es dennoch schade, dass nicht mehr Kolleginnen für einen Beitrag gewonnen werden konnten.

Anmerkungen:
1 Zur frühen zeitgenössischen Auseinandersetzung siehe Gertraude Buck-Bechler / Hans-Dieter Schaefer / Carl-Helmut Wagemann (Hrsg.), Hochschulen in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch zur Hochschulerneuerung, Weinheim 1997.
2 Jürgen Kocka / Renate Mayntz (Hrsg.), Wissenschaft und Wiedervereinigung. Disziplinen im Umbruch, Berlin 1998.
3 Vgl. dazu Wolf Rosenbaum, Die Erneuerung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in: Renate Mayntz (Hrsg.), Aufbruch und Reform von oben. Ostdeutsche Universitäten im Transformationsprozeß, Frankfurt am Main 1994, S. 61–82.